März 2018┃Türkische Erziehung - Teil 2

Im ersten Teil hatte ich schon ein bisschen über die Türkische Erziehung, Traditionen und Eigenarten geschrieben. Hier soll es nun etwas spezifischer um die Dinge gehen, mit denen wir als deutsch-türkische Familie besonders häufig konfrontiert wurden und werden. Unsere Tochter wächst bilingual und selbstbestimmt auf. Das stand für uns schon in der Schwangerschaft fest. Alles weitere wollten wir einfach auf uns zukommen lassen.

Training, Training, Training


In der Türkei werden Babys ungefähr ab einem Alter von 4 Monaten regelmäßig mit Kissen gestützt aufgesetzt. Dadurch sollen die Kinder schneller sitzen lernen. Einige sehr überzeugte Vertreter des Hinsetzens meinen sogar, dass Babys allein nicht sitzen lernen können. Sie brauchen Training.

Dieser Gedanke, dass man Babys und Kinder trainieren muss, setzt sich für das weitere Leben so fort. Ich weiß, dass es auch in Deutschland Familien gibt, in denen die Kinder hingesetzt und zum Laufen trainiert werden. Interessant war für mich als junge Mutter aber das Ausmaß des Ganzen hier in der Türkei, was eigentlich so gar nicht zu dem kulturell und traditionell Üblichem passt. Dabei werden bestimmte Bereiche extrem fokussiert, zum Beispiel das Sitzen und vor allem das Laufen, und andere mehr oder weniger komplett vernachlässigt. Beim Thema Fahrrad fahren zum Beispiel scheinen sich türkische Familien nur wenig um das Training zu bemühen. Ist vielleicht zu anstrengend? Man sieht hier ganz oft noch richtig große Kinder (6 Jahre und älter), die mit Stützrädern fahren. Da wäre in meinen Augen manchmal Unterstützung durch die Eltern angebracht.

Unsere Tochter ist jetzt ziemlich genau 15 Monate alt und läuft gut und schnell mit ihrem Laufwagen, und um Möbel herum. Sie macht aber keinerlei Anstalten, frei zu laufen. Auch an den Händen gehalten läuft sie kaum, einfach weil ich sie nie so "trainiert" habe. Ein Junge aus unserer Nachbarschaft, der knapp 12 Monate alt ist, läuft frei. Aber nur, wenn man ihn auf die Füße stellt. Auf dem Boden liegt er normaler Weise und robbt nur, er kann sich nicht selbstständig aufsetzen geschweige denn zum Stehen hochziehen.

Ich habe aus Neugier öfter mal nachgefragt, wenn ich andere Eltern beim Trainieren ihrer Kinder gesehen habe. In den seltensten Fällen erhält man eine Antwort darauf, warum sie das machen. "Er/Sie soll laufen können, wenn er/sie 1 Jahr alt ist." "Man muss die Kinder doch unterstützen, allein wird das nie etwas." "Wenn er/sie erstmal läuft/sitzt, dann ..." "Er/Sie will doch was sehen/gehen können ..."

Wenn die ersten motorischen Meilensteine erreicht sind (Fahrradfahren offensichtlich ausgenommen), dann geht es an andere Dinge, die gelernt und trainiert werden müssen. Die meisten türkischen Kindergartenkinder lernen Schach spielen, haben Englischkurse und nehmen am Pflicht-Musikunterricht teil, während Kindergartenkinder in Deutschland draußen spielen können. Schon im Kindergarten beginnt in der Türkei der Leistungsdruck, die Kinder bekommen vor den Sommerferien "Zeugnisse". Deshalb gibt es natürlich auch bereits Nachhilfeangebote und Privatlehrer für Kinder ab 3 Jahren.

Mir persönlich stößt die Sache mit dem Schachspielen besonders bitter auf, weil ich wirklich keine türkischen Eltern kenne, die Schach spielen können. Warum müssen es dann die Kinder lernen? Ich habe oft das Gefühl, dass bei dem ganzen Training der türkischen Kinder die eigentliche Kindheit auf der Strecke bleibt. In den privaten Kindergärten bleiben die Kinder meistens von 9 bis 17 Uhr. Da sie mit Service-Bussen abgeholt und nach Hause gebracht werden, sind sie zusätzlich nochmal morgens und abends zwischen 30 und 90 Minuten lang unterwegs, je nachdem, wie weit sie von Kindergarten weg wohnen und wie oft der Bus unterwegs hält. In der Schule geht es dann bis zur Universität so weiter, wenn die Kinder private Einrichtungen besuchen. 

Mir ist das eindeutig zu viel Programm besonders für so kleine Kinder und ich frage mich, ob das viele Training überhaupt zu irgendeinem Erfolg führt. Genau wie bei motorischen Meilensteinen bin ich auch bei allem anderen davon überzeugt, dass man (Kinder und Erwachsene) am besten lernt, wenn man von selbst motiviert dabei ist. Alles andere ist in meinen Augen nur Fassade und kann dazu führen, dass man später nur glücklich ist, wenn man von außen genug Lob für Getanes bekommt.


Helikoptereltern & Zirkusdresseure


Für Viele gehört zur türkischen Erziehung in jedem Fall dazu, den Kindern jedes, wirklich JEDES, Hindernis aus dem Weg zu räumen und sie möglichst keine Sekunde aus den Augen zu lassen. Ich bin mit ziemlich entspannten Eltern aufgewachsen und habe mich in meiner Kindheit definitiv nicht beobachtet gefühlt. Für unser Mädchen wünsche ich mir das Gleiche, allerdings scheint es hier in der Türkei etwas schwieriger zu werden. Selbst wenn ich sie einfach "machen lasse", gibt es irgendwie immer jede Menge Menschen, die dazu eine Meinung haben, potenzielle Gefahren sehen und eingreifen.

Türkische Helikoptereltern sind ganz oft auch echte Schwarzmaler. Ich weiß nicht, ob es ein sprachliches Problem ist oder andere Ursachen hat. Man hört ganz viele Eltern, die den Kindern "die Zukunft vorhersagen". "Du wirst da runterfallen." "Du wirst krank werden." Man könnte auf Türkisch auch den Konjunktiv verwenden oder sagen "Du kannst da runterfallen", habe ich so aber tatsächlich noch nie gehört.

Gerade die Eltern, die ihre Kinder durch die vielen Trainings und Programme nur selten (manche nur sonntags) sehen, versuchen sich dann als Zirkusdresseure. Ich habe hier in der Türkei schon so oft gesehen, dass Kinder völlig Fremden irgendwelche Dinge "vorführen" sollen. Sind Kinder und Eltern aber kaum aneinander gewöhnt, führt das dann ganz oft zu Stress bei allen Beteiligten. Auch hier fehlt mir irgendwie gänzlich das Verständnis. Ich finde es viel schöner, wenn ein Kind eine Sache von sich aus macht oder ein Lied dann singt, wenn ihm gerade danach ist. Wahrscheinlich bin ich zu "frei" aufgewachsen. :)

Ich glaube, dass das Helikopterverhalten vieler türkischer Eltern durch die Betreuungssituation in der Türkei bedingt ist. Wir kennen viele Familien, in denen die Kinder unter der Woche entweder wirklich lange Tage im Kindergarten oder der Privatschule haben oder bei denen die Kinder komplett durch die Großeltern betreut werden (Tag und Nacht). All diese Familien sehen sich nur am Wochenende bzw. je nachdem wie eingespannt die Kinder da mit Nachhilfe und sportlichen Aktivitäten sind, am Samstag und am Sonntag für je ein paar Stunden. Man hat als Außenstehender recht oft das Gefühl, dass die Eltern ihre Kinder kaum kennen.

Wir leben mit unserer Tochter unsere eigene Form von Attachment Parenting, eine Erziehungs- bzw. Begleitungsform für Kinder, die in der Türkei meines Wissens nach leider bisher kaum verbreitet ist. Auch Dinge wie Urvertrauen, Selbstbestimmung, Selbstwert, Mitbestimmung und Gleichberechtigung haben in der türkischen Erziehung aktuell meines Empfindens nach keinen großen Stellenwert. Oft werden gerade kleine Kinder für unwissend und dumm gehalten. Vielleicht auch deshalb das Bedürfnis nach so viel Training und Behütung.

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